Glaubensverunsicherungen

     

 

Wenn es in unserer Epoche so etwas wie die charakteristische Grundhaltung einer oder eines aufgeklärten Intellektuellen gibt, dann ist es die des bohrenden, nagenden Zweifels an dem was ist – seien es naturwissenschaftliche Erkenntnisse, gesellschaftliche Verhältnisse, transzendente Mächte oder auch die Beziehung zu dem, was wir «ich» nennen. Michael Hartlieb stellt hier die Beobachtungen zum religiösen Zweifel von Veronika Hoffmann vor.

 

Der Zweifel scheint geradezu der Blutsbruder des besseren Wissens zu sein, denn nur aus dem Hinterfragen der Fundamente des Bestehenden entspringt die Motivation zum Weiterfragen und zum Entdecken bislang nicht einmal absehbarer Verbindungen und Eigenschaften. Ist der Zweifel aber deshalb in jeder Situation die richtige Haltung? Gibt es vielleicht Lebensbereiche, in denen durch eine solcherart rigoros angewendete epistemische Haltung der grundsätzlichen Skepsis das «Kind mit dem Bade ausgeschüttet» wird, der Zweifel also zerstörerisch wird? Weiter gefragt und bezogen auf die Theologie: «Darf» man – als Christin oder als Christ – überhaupt an Gott oder an bestimmten Glaubensinhalten zweifeln – oder geht dadurch die persönliche «Glaubensgewissheit» verloren?

 

Es sind Fragen wie diese, mit denen sich die im März 2024 erschienene Monographie «Glaubensverunsicherungen. Beobachtungen zum religiösen Zweifel» der Freiburger Systematikerin Veronika Hoffmann beschäftigt. Als wissenschaftlich vertiefende Erweiterung der publikumsorientierten Vorstudie «zweifeln und glauben» aus dem Jahr 2018 (erschienen bei camino) versteht sich das vorliegende Buch als umfassende Studie des Verhältnisses von «Zweifel» und «Glaubensgewissheit». Eine Grundfrage des Buches speist sich dabei aus der Feststellung, dass der Zweifel lange als gefährlicher Gegenspieler des Glaubens galt, heute dagegen der Zweifel – die Einleitung dieser Rezension schliesst sich diesem Befund an – eine grosse Wertschätzung erfährt, ja sogar als Voraussetzung für verantwortungsvolles und intellektuell redliches Denken und Arbeiten gesehen wird. Der affirmative, bloss bejahende und nicht hinterfragende Mensch geniesst in dieser Hinsicht kein Vertrauen, weil er als leicht zu manipulieren, jedenfalls irgendwie nicht ganz erwachsen gilt. Ist der Zweifel also vielleicht sogar eine (notwendige) Voraussetzung der Neuzeit?

 

Es geht Hoffmann in der Verfolgung dieser und weiterer damit verknüpfter Fragen jedenfalls darum, den Zweifel inhaltlich zu differenzieren und ihn dabei von der (in ihren Worten «statischen») Skepsis oder der Indifferenz zu unterscheiden. Der hier im Vordergrund stehende Zweifel ist dagegen eine mit einem «’Bewegungsimpuls’ versehene Unsicherheit» (S. 13), der zu einer neuen Position oder von dieser weg führen kann. Es geht also, kurz gesagt, um einen Zweifel, der eine persönliche Haltung oder Überzeugung zu verändern im Stande ist – und nicht um die Profilierung eines irgendwie neutralen Konzepts des Zweifels. Dazu Veronika Hoffmann instruktiv: «Es ‘gibt’ den Zweifel im religiösen Kontext nicht, sondern Menschen interpretieren Erfahrungen, innere Zustände etc. als Zweifel – oder eben als Anfechtung, als ‘Dunkle Nacht’ o. ä. Und auch die konkrete Gestalt der Zuschreibung von Zweifel kann sehr unterschiedlich sein: als intellektuelle Herausforderung, als Krise der Gottesbeziehung, als Anstoß zu einer Glaubensvertiefung … Unterschiede können sich zudem zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ergeben, oder es kann zu Reinterpretationen aus zeitlichem Abstand kommen.» (S. 25)

 

Ein zweiter Anstoss für dieses Buch ist die Erkenntnis Hoffmanns, dass der «Zweifel» in der Theologie bislang kaum eine Rolle gespielt, ja sogar ein Schattendasein geführt hat. Dies müsse erstaunen, weil mit der Fragestellung verbundene Themen – Atheismus und Religionskritik, Gespräch mit Andersglaubenden, religiöse Indifferenz als neues Phänomen in weiten Teilen der Bevölkerung – eine sehr grosse Rolle in den theologischen Diskursen der letzten Jahre gespielt hätten. Mit der genannten Grunderkenntnis nun geht es mitten hinein in die unterschiedlichen theologischen Tiefenbohrungen dieses Buches: Warum wurde der Zweifel traditionell als «Nichtglaubenwollen» verstanden? Warum ist das Gegenteil des Zweifels nicht der Glauben, sondern die «Festigkeit der Gewissheit»? Wie lässt sich der Zweifel überhaupt in einen Begriff fassen, wenn es ja jeweils Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Glaubens(gewissheits-)biografien und -anfechtungen sind, die ihn durchleben? Ist es überhaupt möglich, von «dem» Zweifel zu sprechen, wenn sich durch die Tatsache radikal unterschiedlicher Lebenswelten von biblischen Zeiten bis in unsere Gegenwart die Erfahrungshorizonte von Zweifel ebenso radikal unterscheiden? Wie verbinden sich Säkularität und die (neue) Fähigkeit, Glaubensgewissheiten zu hinterfragen?

 

Es ist das grosse Verdienst dieses Buches – was es zugleich äusserst lesbar macht! – dass diese theologischen Tiefenbohrungen in sieben Studien unterteilt werden, die sich jede für sich mit einem Themenbereich beschäftigen. Je nach Interesse kann man sich so etwa intensiv mit dem Zweifel in der Theologie des 20. oder 21. Jahrhunderts auseinandersetzen (Studie 2), mit der «Anfechtung, Versuchung und Nachterfahrung des Glaubens» bei bekannten Theolog:innen aus Mittelalter und Neuzeit (Studie 4), auf den Spuren von Charles Taylor fragen, ob der Zweifel tatsächlich ein Kind der Neuzeit ist (Studie 5), oder wie «Glaube, Zweifel und Identität» (Studie 7) in unseren heutigen Lebenswelten zusammenhängen.

Im besten Sinne einer Studie, die zunächst einmal (und das ist mehr als genug!) die unterschiedlichen Fragestellungen und -perspektiven sauber theologisch differenzieren will, liefert das Buch nun keine lebensratgebermässige Gebrauchsanweisung für die «richtige» Anwendung des Zweifels ab. Sie lotet eher Diskurse aus, verfolgt theologische Diskussionen und Positionen und dient so insgesamt vor allem auch der Begriffsbildung bzw. -schärfung. Dies merkt man auch daran, dass die in der Einführung aufgeworfenen Thesen am Schluss nur auf äusserst knappe Weise mit den Ergebnissen der sieben Studien kontrastiert werden, persönliche Einordnungen aber weitgehend unterbleiben. Veronika Hoffmann gibt jedoch einige interessante Hinweise darauf, welche weiteren Fragestellungen im Umfeld des Zweifels einer künftigen Bearbeitung bedürften.

 

Vielleicht mag sich für die eine oder den anderen die Frage stellen, warum man dieses Buch lesen sollte. Neben den wirklich sehr gut ausgearbeiteten Studien mit einer Fülle an Details, spannenden Diskursen und weiterführenden Quellen aus den früheren «Randgebieten» der Theologie, die heute gleichwohl immer stärker ins Zentrum rücken, ist es vor allem auch die sehr gut lesbare, exakte Wissenschaftsprosa von Veronika Hoffmann, die sich angenehm von der Sprachhuberei anderer Systematiker:innen unterscheidet. Auch für Nicht-Theolog:innen ist das Buch sehr gut lesbar, und es eröffnet über eine aktuelle Fragestellung einen neuen Blickwinkel auf eher bekannte theologische Themenbereiche. Ein sehr empfehlenswertes Buch für interessierte Menschen, die die Entstehung eines neuen Feldes theologischen Denkens und Forschens begleiten wollen!

 

Veronika Hoffmann. Glaubensverunsicherungen. Beobachtungen zum religiösen Zweifel, Mainz 2024 (Matthias Grünewald), ISBN978-3-7867-3361-4